Egon Erwin Kisch zählt zu den besten Journalisten der deutschen Sprache. 1925, also vor fast hundert Jahren, erschien ein Band mit zusammengefassten Reportagen. Der Titel des Buches wurde zu seinem Beinamen: „Der rasende Reporter“.
„Um wieviel herrlicher ist es im Flugboot als im Aeroplan! Kein Motor vor mir, der mir seine Auspuffgase in Nase und Augen bläst, kein Propeller verstellt die Aussicht. Weit hinter mir sitzt der Pilot, und über ihm rattert der Druckmotor. (…) Wir fliegen niedrig, nur vierzehnhundert Meter.“
Was Kisch hier beschreibt, ist Fliegen in seiner ursprünglichen Form. Man fühlt mit allen Sinnen, dass man in der Luft ist.
Gegen Ende des ersten Weltkrieges begleitete Kisch als Presseoffizier den mit einem Wasserflugzeug durchgeführten Aufklärungsflug der K.u.K. Armee von Istrien nach Venedig. Auch dieser Bericht ist Teil des oben erwähnten Werks.
Wer war „der rasende Reporter?“
Egon Erwin Kisch, am 29.4.1885 in Prag geboren, begann nach zwei abgebrochenen Studien eine Karriere als Kriminalreporter bei Prager Zeitungen und lernte dabei die Unterwelt genauestens kennen. Neben Crime Stories veröffentlichte er immer wieder einfühlsame, aber sachliche Milieustudien aus Prager Elendsquartieren und von gesellschaftlichen Randgruppen.
Schon 1913 machte er sich einen Namen durch die Aufdeckung der militärischen Vertuschung des Selbstmordes von Oberst Redl.
Im 1. Weltkrieg wurde Kisch zur K.u.K. Armee eingezogen. Nach Verletzungen an der russischen Front kam er als Presseoffizier nach Wien, wo er sich immer mehr zum Kriegsgegner und deklarierten Kommunisten entwickelte.
Im Pressequartier zum Kommunisten
Die Funktion in der Presseabteilung bot durchaus interessante Möglichkeiten: Vor allem gab es viel Zeit zum Schreiben! Gegen Ende des Krieges hatte er Gelegenheit, bei dem Aufklärungsflug von Istrien nach Venedig mit zu fliegen. Dieses Erlebnis verarbeitete Kisch zu dem Essay „Erkundungsflug über Venedig“, der 1925 in dem erwähnten Sammelband zusammen mit anderen spannenden Texten herauskam. Bei den Reportagen in diesem Band mischt er sich unter Auswanderer aus Frankreich, besucht Heizer eines Riesendampfers, beschreibt eine Reise zum Meeresgrund, den Tod eines Mörders und vieles mehr.
Die Texte sind unterhaltsam und feinfühlig zugleich, aber auch neutral, informativ, manchmal ein wenig fantasievoll ausgeschmückt und belehrend. Fast immer schafft er es, an die richtigen Gesprächspartner zu kommen.
Die Handlungsorte wechseln ständig: Prag, Wien, Paris, London, Istrien … beinahe überall ist Kisch zur Stelle. Zur Datenübertragung bediente er sich aller nur vorhandenen technischen Möglichkeiten.
In dem Beinamen „der rasende Reporter“ klingt vielleicht ein wenig Oberflächlichkeit mit. Zu Unrecht! Kisch nimmt mit seinen auf hohem sprachlichen Niveau stehenden Texten einen festen Platz in der Prager deutschen Literatur ein.
Immer wieder maßten sich später andere Schreibende diesen Beinamen an, aber an die Qualität der Reportagen eines Kisch kommt keiner auch nur annähernd heran.
Zwei Minuten Venedig
Wie geht der Flug nach Venedig weiter?
Der „Aeroplan“ überfliegt die „blaugrüne Grenzenlosigkeit“ der Adria. Im Wasser „schwanken Polypen. Wir wissen, dass es Minen sind, doch sie kümmern uns nicht. (Das) ist Sache der Nahaufklärung.“ Nach vierzig Minuten ist der Lido erreicht, das Fort San Nicolo ist zu erkennen. Dort, am Nordende des Lido befindet sich der Flugplatz, der ab 1915 militärisch genutzt wurde und jetzt noch für Kleinflugzeuge in Betrieb ist. Der Passagierflughafen von Venedig („Marco Polo“) liegt heute auf dem Festland.
Das Wasserflugzeug mit Kisch und seinem Piloten wird beschossen, jedoch nicht getroffen, Jagdflieger steigen auf. Kisch macht schnell einige Aufklärungsfotos, ein kurzer Blick noch nach Westen auf die eigentliche Stadt: Die Gondeln an der Riva degli Schiavoni sehen wie Borstenhaare aus, Dogenpalast und Markuskirche sind zu sehen…. Erinnerungen an friedliche Zeiten. Kaum mehr als zwei Minuten dauert der Aufenthalt über Venedig, dann geht es zurück nach Südost. Nach insgesamt knapp zwei Stunden ist das Flugzeug wieder in Istrien.
Vom Schiff gesprungen
In den 1920er Jahren lebte Kisch hauptsächlich in Berlin und unternahm zahlreiche Reisen, u.a. in die Sowjetunion, die USA, nach Algerien und später nach China. Seine Eindrücke veröffentlichte er in vielen Zeitungen und mehreren Büchern.
Mit der Nazizeit wurde es für Kisch eng in Deutschland. Jude und aktives KP Mitglied, dazu noch Journalist, das war eine gefährliche Mischung. Nach einer Verhaftung 1933 wurde er aus Deutschland ausgewiesen, reiste nach Australien, wo man ihn wegen seiner politischen Gesinnung trotz Visum nicht einreisen lassen wollte. Jedoch sprang er vom wieder abfahrenden Schiff auf den Kai von Melbourne, verletzte sich dabei, aber erzwang so nach zahlreichen Sympathiekundgebungen der australischen Linken den Aufenthalt. Während des Krieges lebte er in den USA und Mexiko. Die letzten Jahre verbrachte er mit seiner Frau Gisela Lyner, die seine Arbeiten unermüdlich korrigiert und verbessert hatte, wieder in Prag, wo er 1948 starb. Mit dem kommunistischen Regime hatte er sich arrangiert. Kisch hatte in seinem Leben viel erlebt und alle Eindrücke begierig aufgesogen. Seine Aussage im Vorwort von „Der rasende Reporter“ (1925) ist sinnbildlich: „Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt!“
Dieser Beitrag wurde verfasst von: Mag. Wolfgang Ludwig
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